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von ENDURADO

Fucking weather – time to write

Das es so plötzlich kommen würde, daran hatte ich nicht geglaubt. Ich krabble aus dem Zelt und fühle, wie ich schon lange nicht mehr gefühlt habe. Das Handy gibt mir recht es sind 9 Grad in Evanston. Und ich bin hier. Die Wetterfarbe ist mittel- bis dunkelgrau. Was für ein Tag.

Gut das ich gestern Abend Steve kennengelernt habe. Erst hat er heimlich mein Nummernschild fotografiert, ohne was zu sagen ist er dann mit seinem Hund weiterspaziert. Ich stehe hier auf einem RV Campground. RV steht für Recreational Vehicle kurz auf Deutsch Wohnmobil. Kurz ist hier aber gar nichts. Gerade ist hier ein Truck auf den Platz gerollt. Ein großer Kenworth-Truck mit Sattelauflieger. Hinter dem Fahrerhaus steht ein Smart noch auf der Zugmaschine. Dann folgt ein 15 Meter langer Auflieger, der natürlich ein Wohnanhänger ist. Das ist der größte, den ich bis jetzt gesehen habe. Foto hab ich leider keins, aber zur Einordnung mal ein Bild von einem Pickup + Wohnauflieger. Und das ist hier gar nichts Besonderes sondern gehört zum alltäglichen Straßenbild.

Irgendwann taucht Steve dann wieder auf und fragt mich, ob ich tatsächlich mit dem Motorrad aus Deutschland hergekommen bin. Na klar 11 Stunden Flug und Du bist in San Francisco. Er fragt dann wo der Meyn Taunus Kries denn liegt in Deutschland. Offensichtlich weiß er mehr, als er zugeben will. Er hatte einer ehemaligen Arbeitskollegin das Bild von meinem Nummernschild gesendet und gefragt, ob sie damit etwas anfangen könne. Sie kommt aus Deutschland und hat ihm dann die intimen Details verraten. Während er das erzählt, wählt er schon ihre Nummer und ich muss mit Anne, ehemals aus Leipzig telefonieren. Es ist ein leichtes und lustiges Telefonat, denn sie hatte erst angezweifelt, das ich ein echter Deutscher sei. Das wurde aber jetzt auch Steve gegenüber offiziell bestätigt. Das Gespräch endet mit einer Einladung ihr Haus in Idaho. Dankeschön, aber da komme ich leider nicht mehr vorbei.

Steve ist begeistert von meiner KTM und hat selbst eine alte Honda XL 650, natürlich neben seinem riesigen Trailer stehen. Er lädt mich auf einen Whiskey oder ein Coors light in sein rollendes Appartment ein. Wir trinken den ganzen Abend Whiskey und ich erfahre viel über ihn und vermutlich auch Amerika. Steve ist in Rente und war früher Fahnder bei der Polizei in San Diego. Er zeigt mir tatsächlich die Bilder, die wir aus dem Fernsehen kennen. Er mit seinem Cop-Partner in einem typischen amerikanischen Polizeiwagen. Tatsächlich, das gibt´s wirklich. Auch das Posing-Foto mit riesiger Knarre und Sonnenbrille ist auf seinem Handy. Und ne Riesentüte Popcorn lässt er auch noch springen.

Später zeigt er mir noch die Knarren, die er dabei hat und die verschiedene Munition. Und zeigt er mir auch die Einschläge auf einer Zielscheibe aus ein Zentimeter dickem Stahl. Im Vergleich die verschiedenen Kaliber. Ballistisch gesehen hat mein Wissen sich gestern Abend vervielfacht. Er konnte gar nicht verstehen, dass ich noch nie, außer bei der Bundeswehr, eine Waffe abgefeuert habe.

Ich komme aus dem Staunen gar nicht mehr raus und frage nach den Features in diesem Wohnmobil, er zeigt und erklärt mir gerne Alles. So gibt es zum Beispiel eine Tankanlage für sein Motorrad. 100 Liter Sprit inklusive elektrischer Zapfanlage stehen nur für das Motorrad bereit. Und nochmal 100 Liter für den Stromgenerator. Dazu kommen Gas- und Wassertanks. Es gibt eine Garage, in der seine Fahrräder stehen und eine 4.000 Watt Musikanlage mit riesigen Boxen, größer als die von Dirk, die in Eppstein im Keller stehen. Die erkennt er nämlich sofort, als ich ihm den Zeitungsartikel über unsere Garage zeige.er braucht die Anlage, wenn er in der Wüste ist und dort mal stehen bleibt.

Kurz, das ganze ist ne Show der Superlativen. Ich empfinde das nicht als Angeberei. Ich frage und er antwortet begeistert. Er kann mit dem Trailer wochenlang autark irgendwo stehen, wenn es denn so sein soll.

Irgendwann kommt die Rede auf Biden, den er nicht mal für geeignet hält, hier auf dem Campingplatz das Tor auf und zu zu machen. Ich frage ihn, was er von Trump hält. Er Sagt; ihm sei gleichgültig, ob Trump korrekt seine Steuern entrichtet oder nicht. Für ihn ginge es darum, das Trump für ein unabhängiges Amerika steht. Amerika sei nicht abhängig von Russland oder China, es gäbe eine dicke Pipeline aus Alaska. Ich denke, er hat sich gerade noch verkniffen zu sagen die Amerikaner seien, wenn es nach Trump ginge, nicht so beschränkt wie die Europäer. Biden hingegen wolle sie alle zu Kommunisten machen.

Wow. Das war mal ne Stimme aus dem Volk. Natürlich gehört zu einem Ex-Polizisten auch ne gehörige Portion Patriotismus. Ich habe nicht gegen seine Meinung argumentiert. Ich wollte ja wissen, was seine Haltung ist und warum. Ihm ging es um Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Inflation, steigende Preise für Sprit und Fleisch, Law and Order. Für das alles setze Trump sich ein und Biden konterkariere das. Nun denn.

Ich habe nur gestern Abend ein Stück Verständnis für den Ursprung dieser Haltung entwickeln können. Die Leute hier tragen das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstversorgung inklusive Selbstverteidigung tatsächlich in jeder Faser mit sich. Wenn man selbst hier in den Weiten unterwegs ist und immer wieder, selbst wenn man auf der Strasse bleibt, über die Benzinversorgung nachdenken muss, oder über das Wetter, oder über die gefühlte Schutzlosigkeit weitab von anderen Siedlungen, dann bekommt die eigene Stärke, Unabhängigkeit und Wehrhaftigkeit einen anderen Stellenwert.

Nur um das klarzustellen: Meine Meinung zu Trump und dessen Politik, die ich umfassend ohnehin nicht kenne, hat sich um keinen Zentimeter geändert. Aber ich habe gestern mal einen kleinen Einblick in ein amerikanisches Durchschnittsleben (vermutlich?) bekommen und fand zumindest den gesamten Zusammenhang meiner Eindrücke von Steve und seine politische Haltung schlüssig. Ob Trump nun diese Werte oder Probleme tatsächlich behandelt hat oder (hoffentlich nicht nochmal) behandeln wird, ist eine andere Frage.

Aber da ist noch ein interessantes Detail, dass für mich erkenntnisreich war. Heute morgen hat Steve mich auf einen Kaffee, ne Kopfschmerztablette und ein Rührei wieder in seinen Trailer gebeten. Das war ein Geschenk Gottes, bei neun Grad und Nieselregen. Als er so das Ei von der Pfanne auf die Teller bringen will, sagt er das sei doch ein gutes Foto. Ich nehme die Aufforderung an und knipse das Geschehen.

Eine Viertelstunde später bittet er mich, ihm das Foto mal zu zeigen. Er guckt und sagt, meine Freunde würden jetzt bestimmt viele Fragen fragen. Er sei eben nicht ganz normal und dann erzählt er mir die Geschichte, dass er sich schon immer als Frau gefühlt hätte. Irgendwann hat er dann operativ nachgeholfen. Jetzt fühle er sich pudelwohl. Er stehe aber weiterhin auf Frauen. (Er holt auch gerade seine Freundin ab, die ich dann hoffentlich auch noch kennenlerne.) Und je nach Anlass würde er auch Frauenkleider tragen oder nicht. Heute trug er nur Ohrringe, die klar Frauenohrringe waren. Seine Geschichte und die Reaktionen seines Umfeldes waren typisch, gleich denen, die ich aus dem Fernsehen oder irgendwelchen Magazinen kenne. Mir selbst waren die Brüste zuerst gar nicht aufgefallen, aber irgendwann war klar, da ist irgendwas anders als erwartet. Was hinter so einem Leben steckt, kann ich nicht im geringsten beurteilen. Und von daher ist es auch unangemessen, das, was er erzählte, als typisch einzuordnen. Ich habe auch keine intimen Kenntnisse vermittelt bekommen und das würde ich auch nach so kurzer Zeit des Kennenlernens nicht wollen.

Steve sagte, ich könne meinen Freunden jetzt jede Antwort auf das Foto geben. Er würde ohnehin sein Leben so leben, wie er es jetzt tut. Für mich war das auch das Okay, diese Geschichte hier in diesem Blog zu verbreiten. Für mich war das kein voyeuristisches Abenteuer und es soll keine „Hast Du noch nicht gehört“-Geschichte sein.

Für mich ist das wichtigste, dass ich mal „so jemanden“ kennengelernt habe. Und dabei selbst erfahren habe, dass sich solche Menschen, bis auf ihr geschlechtliches Lebensgefühl etc., nicht von anderen Menschen unterscheiden müssen. Steve lebte und lebt ein offensichtlich normales und glückliches Leben mit seiner Freundin, seinen drei Exfrauen, seinen zwei Kindern und seinem Hund. Wenn man nur die organischen Bestandteile erwähnen will. Das habe ich erst heute verinnerlicht. Ich hätte einen mehr absonderlichen Charakter erwartet. Übrigens das „Hausfrauen“-Foto mit der Pfanne hat keine besondere Bedeutung. Steve hat in keiner Art und Weise irgendetwas weibisches zur Schau gestellt. Gar nicht. Er ist einfach nur ein sehr guter Gastgeber.

So, das war mal ein langer Text. Und sowas entsteht natürlich nicht unter normalen, gar luxuriösen Bedingungen. Tatsächlich sind irdische Entbehrungen notwendig, um einen solchen literarischen Marathon überhaupt nur anzugehen.

 

Das war der einzige Ort auf dem Campground, der warm, trocken, WIFI und Strom hatte. Ich  hoffe ich kann diese Wirkungsstätte morgen verlassen. Es hat inzwischen aufgehört zu regnen und windy.com gibt grünes Licht für morgen.

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